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Text File  |  2000-03-28  |  29KB  |  429 lines

  1.  
  2.  Life
  3.  (c)2000 Lukas Krüger
  4.  
  5. Der Anfang ist weiter unten, hier erstmal ein paar Infos:
  6.  
  7. Diese Geschichte spielt irgendwo in einem Deutschland der Zukunft, in den
  8. Jahren 2006 bis 2010. Zum Schreiben dieser Geschichte hab ich ca. 2-3
  9. Stunden am Stück gebraucht, wahrscheinlich lag die schon irgendwo in meinem
  10. kranken Hirn und hat gewartet, daß ich sie aufschreibe. ;-)
  11. Ich hatte schon längere Zeit die Idee, mal ein Programm zu schreiben, was in
  12. irgendeiner Form intelligent ist. Da mir nach kurzer Zeit un wenigen
  13. Versuchen die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens klar wurden, habe ich
  14. hier eine Kurzgeschichte draus gemacht, schließlich ist in der SF alles
  15. möglich. Zum technischen Hintergrund: Der erste Teil der Geschichte besteht
  16. aus konkreten Plänen für Programme, die ich gemacht hatte. Allerdings wäre
  17. die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges kosmisch gering, und so wurde nie
  18. etwas aus dem Projekt. Der Rest ist destillierte, reinste SciFi. Viel Spaß
  19. beim Lesen!
  20.  
  21. Falls dir diese Geschichte gefällt, oder falls du eine Idee für eine andere
  22. Geschichte hast, kannst du mir eine eMail schicken.
  23.  insanehacker@yahoo.com
  24. Und falls du Software, mehr Geschichten, Bilder, Musik o.Ä. suchst,
  25. hier meine Homepage, wo es noch jede Menge mehr gibt:
  26.  http://insanehacker.notrix.de
  27.  
  28. 2x Sorry: 1. Die Geschichte ist etwas länger geraten als geplant. Macht es
  29. euch schon mal vor dem Computer bequem (sofern das geht), und 2. bin ich
  30. nicht gerade ein Meister im Umgang mit Sprache im allgemeinen, erwartet
  31. bitte kein literarisches Meisterwerk!
  32.  
  33. Jetzt gehts aber los hier!
  34.  
  35. Als William das erste Mal das Programm "Core Wars" zwischen die Finger
  36. bekam, war er begeistert. William war 17 jahre alt und Coder aus
  37. Leidenschaft. Seit er vor 5 Jahren das erste mal mit AmigaBasic auf einem
  38. A500 programmiert hatte, hatte er viel dazugelernt. Nun hatte er einen
  39. A1200T mit PPC, und Assembler war für ihn das einzig Wahre. Genauer gesagt,
  40. bekam er nicht Core Wars in die Finger, sondern lediglich ein paar lose
  41. Blätter aus dem Kopierer, wo die Syntax und die Spielregeln dieses Spiels
  42. draufstanden, und außerdem ein paar Beispiele.
  43. Für die, die Core Wars nicht kennen: Man schreibt bei diesem Spiel ein
  44. kurzes Maschinenprogramm mit sehr geringem Befehlsumfang. Einziges Ziel
  45. dieses Programms ist es, in einem abgegrenzten Speicherbereich abzulaufen,
  46. und ein anderes Prograamm, welches das gleiche Ziel hat, in den Absturz zu
  47. treiben. In der Regel geschieht dies dadurch, daß das Programm auf eine
  48. Speicherzelle stößt, die entweder leer ist oder ein Datenbyte statt eines
  49. Befehls enthält.
  50. Mit der Zeit entwickelten sich im Internet richtige Fanclubs, und
  51. es wurden regelmäßig Turniere abgehalten. Der Name kommt übrigens von den
  52. Magnetspeicherkernen in den allerersten Computern, die jeweils 1 Bit(!)
  53. speichern konnten.
  54. Naja, William hatte nun also die Regeln, und für ihn war es natürlich ein
  55. Leichtes, einen Interpreter für CW-Programme zu schreiben. Nach 2 Tagen
  56. hatte er eine komplette Entwicklungsumgebung erstellt, nach einer Woche ein
  57. kleines Programm, welches jedes der Beispielprogramme aus den
  58. Anleitungsblättern in Sekundenschnelle eliminierte, und nur wenige Byte groß
  59. war. Damit hatte dieses Thema für ihn erst einmal jeden Reiz verloren, bis
  60. er durch Zufall im Internet eine Seite aufstöberte, wo solche CW-Turniere
  61. abgehalten wurden. Das bewog ihn dazu, sein kleines Programm per eMail
  62. hinzuschicken, damit es am nächsten Wettbewerb teilnehmen konnte. Dort gab
  63. es eine spezielle Regel: Jeder Programmierer war verpflichtet, den Code
  64. seines Programms jedem auszuhändigen, der es besiegt hatte.
  65. Es kam wie es kommen mußte: Williams völlig naives und zudem fast
  66. ungetestetes Programm wurde bereits im ersten Kampf geschlagen. Den zweiten
  67. Kampf gegen einen relativ professionellen Code gewann es, wenn auch durch
  68. Zufall. Danach war ihm kein Glück mehr beschieden. Dafür bekam Willi aber
  69. zumindest den Source des Programms, welches er besiegt hatte.
  70. Selbstverständlich nahm er es bis auf das letzte Bit auseinander, um hinter
  71. die Taktiken der Profis zu gelangen. Irgendwie hatte er aber keinen Plan,
  72. wie das Programm funktioniere, zumal es ziemlich viel Code enthielt, der nur
  73. dazu diente, feindliche Programme zu verwirren und in die Irre zu führen.
  74. Das verwirrte aber ebenso William, und so beschloß er, mit einer anderen
  75. Taktik heranzugehen. Er lud sich aus dem Netz soviele CW-Programme herunter,
  76. wie er finden konnte (nicht viele Programmierer veröffentlichen freiwillig
  77. ihre kleinen Kampfmaschinen), und hortete sie auf seiner Festplatte.
  78. Dann machte er sich ans Werk. Er entwarf für seinen CoreWars-Interpreter eine
  79. Prozedur, die sein persönliches Programm zweimal im Speicher installierte,
  80. und eines davon zufällig modifizierte, sozusagen eine Mutation. Danach
  81. führte der Computer mit jedem der beiden Programme Kämpfe gegen alle anderen
  82. auf der Festplatte vorhandenen Programme durch. Das Geniale daran war: Das
  83. Programm, welches von den beiden besser abgeschnitten hatte, verdoppelte
  84. sich wieder, das andere wurde gelöscht, und wieder wurde eins davon
  85. modifiziert, rein zufällig. Nun dauerte das Ganze ziemlich lange. Der
  86. Computer lief Tag und Nacht, William hatte ihn so programmiert, daß er die
  87. beiden Programme jede Stunde auf Festplatte sicherte, falls mal was
  88. schiefging. Es ging zwar nichts schief, aber als nach einer Woche immer noch
  89. das ursprüngliche, unmodifizierte Programm da Bessere war, kamen ihm
  90. Zweifel. Inzwischen waren einige Dutzend Turniere abgelaufen, und jedesmal
  91. hatte sich die Mutation als nicht 'lebensfähig' herausgestellt. Umso größer
  92. war seine Freude, als er am 9.Tag seines Experiments entdeckte, daß ein
  93. neues Programm nun an der Spitze stand.
  94. Er konnte es kaum erwarten, nachzuschauen, welche Veränderung die
  95. Verbesserungen bewirkt hatte. Es war eine Enttäuschung: Williams Meinung
  96. nach war das Programm jetzt sogar weniger effizient, aber die Ergebnisse
  97. sprachen für sich, und so führte es das Experiment fort. Was er nicht
  98. erwartet hätte: die Entwicklung beschleunigte sich extrem, und nach weiteren
  99. 10 Tagen hatte er ein Stück Code, das jedes andere der Programme, die ihm zur
  100. Verfügung standen, absolut sicher und präzise erledigen konnte, und das
  101. zudem mit seinem ursprünglichen Programm absolut gar nichts mehr zu tun
  102. hatte. Es war zum einen wesentlich länger, auf der anderen Seite entsprach
  103. es einem Programmierstil, der irgendwie auf ersten Blick total unlogisch
  104. erschien, sich aber als absolut effizient und für andere CW-Programme ebenso
  105. tödlich erwies.
  106. Nun sah William die Zeit gekommen, um es noch einmal zu versuchen: Er
  107. meldete sein Programm zum nächsten Turnier an. Am nächsten Tag hatte er über
  108. die Hälfte aller Kontrahenten besiegt und lag damit bereits unter den Top 10
  109. aller Core Wars-Programmierer. Natürlich verriet er keinem, daß sein
  110. Programm in wirklichkeit das Ergebnis eine KI-Experiments war.
  111. Dann ging das Spiel von vorn los: Er fütterte seinen Computer mit dem
  112. erkämpften Code und überließ sein Programm wieder sich selbst.
  113. Genau dieses Spielchen wiederholte William noch ein paarmal, bis er
  114. schließlich der absolute Meister im CW-Programmieren war. Es gab kein
  115. einziges Programm mehr, das ihn besiegen konnte, und so verlor William
  116. wieder einmal das Interesse daran.
  117. Bis ihm in der Schule im Biologieunterricht der glänzende Einfall kam, er
  118. könnte sein Programm etwas unter einen künstlichen Evolutionsdruck setzen.
  119. Hier hatten schon Andere Vorarbeit geleistet: Wohl jeder kennt das Programm
  120. LIFE, welches als Zellgenerator Weltruhm erlangt hat.
  121. William änderte die Regeln etwas ab, und statt einfacher Zellen kamen nun
  122. die besten der besten CW-Programme in das LIFE-Raster. Wenn nun 2 Zellen im
  123. Begriff waren sich zu vergrängen, wurde ein Core-Wars-Schlachtfeld
  124. initialisiert, die beiden Programme traten gegeneinander an, und das bessere
  125. Programm verdrängte das andere. Selbstverständlich wurden die zufälligen
  126. Veränderungen des Codes auch hier realisiert.
  127. Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten lief das Programm hervorragend,
  128. innerhalb weniger Tage hatte sein Programm, beziehungsweise die Nachkommen
  129. davon, das gesamte Spielfeld erobert. Damit war es jedoch noch nicht zu
  130. Ende: Seine Programme mutierten weiter und, genau wie beabsichtigt, es
  131. traten immer bessere und effizientere Codes auf. Allerdings stagnierte die
  132. Entwicklung nach einer gewissen Zeit, einfach weil nicht genug Platz da war.
  133. So vergrößerte er das Feld etwas, und ließ es zudem dreidimensional werden,
  134. was die Regeln noch etwas komplizierter machte. Leider waren seine 16
  135. Megabyte RAM damit hoffnungslos überfüllt, schließlich wurden die
  136. Zell-Programme immer größer und komplizierter, so besorgte er sich ein
  137. 64-MB-Modul und dazu gleich noch einen zweiten Amiga, ebenfalls mit 64MB.
  138. (Fragt mich bitte nicht wo er das Geld her hatte...)
  139. Diese verband er seriell, und modifizierte seine LIFE-Umgebung so, daß sie
  140. synchron auf 2 Rechnern laufen konnte. Jetzt hatte er sowohl den Speicher
  141. als auch die Rechenpower, um sein Programm weiter gedeihen zu lassen.
  142. Er wußte selbst nicht, was eigentlich daraus werden sollte, aber die
  143. Vorstellung, ein Art künstlicher Evolution zu simulieren, trieb ihn weiter
  144. an. Also startete er das Experiment erneut, jetzt mit mehr Raum,
  145. intelligenteren CW-Programmen und mehr Rechenpower. Das Umgebungssystem,
  146. welches die Parameter für die Simulation enthielt, nannte William
  147. passenderweise ChaOS1.0, was für Chaotic Operating System 1.0 stand.
  148. Dadurch wurde ein dreidimensionales LIFE-Spielfeld erzeugt, das 20 Felder
  149. in jeder Richtung groß war.
  150. Und das Experiment dauerte Wochen. In dieser Zeit legte William seine
  151. Abiturprüfung ab, mit leider eher mäßigem Ergebnis, und bewarb sich um ein
  152. Studium. Zwischendurch entnahm er aus dem laufenden Experiment nur zum Test
  153. eine einzelne "Zelle", also ein CW-Programm, und ließ es am Wettbewerb
  154. teilnehmen. Abgesehen davon, daß es die zulässige Maximallänge des Codes fast
  155. erreichte (Diese ist von Fanclub zu Fanclub verschieden), wurde er ohne das
  156. geringste Problem Erster. Er meldete sich bei weiteren Clubs an, er schickte
  157. sein Programm überall hin, wo Core Wars bekannt war und nach denselben
  158. Regeln gespielt wurde, und überall machte sein Programm eins nach dem
  159. anderen fertig. Es ist kein einziger Fall bekannt, daß es jemals besiegt
  160. worden wäre. Scherzhaft postete er unter alt.corewars.net "Schon gehört? Ich
  161. habe ein Monster erschaffen!". Er nahm sich auch das Programm unter die
  162. Lupe, welches diese Erfolge erzielt hatte. Ohne Ergebnis. Der Code war
  163. augenscheinlich so unlogisch, verworren und lang, daß es ein
  164. Wunder war, daß er überhaupt funktionierte. Aber er tat es.
  165. Inzwischen lief das Experiment weiter. Er hatte es im späten Frühjahr
  166. begonnen, jetzt war es Herbst, er studierte jetzt und kam nur
  167. noch am Wochenende nach Hause. Sein Computer lief weiter. Ein paarmal war er
  168. in der Woche abgestürzt, aber das automatische Abspeichern rettete alles.
  169. Irgendwann fiel William auf, daß das Swapfile auf der Festplatte inzwischen
  170. beängstigende 80 Megabyte groß war. Da kam ihm die Idee, das ganze Projekt
  171. auf eine der Workstations an seiner Uni zu transferieren. Nachdem er den
  172. Admins davon erzählt hatte (und einige Lacher geerntet hatte, weil das
  173. Projekt auf einem Amiga lief! Grrr!), bekam er die Erlaubnis. Es dauerte
  174. zwei Wochen, die gesamte Projektumgebung nach UNIX zu portieren, aber
  175. letztendlich war es kein Problem. Problematisch war es hingegen, die
  176. gesammelten 80 MB an Zell-Daten zu transferieren, schließlich war das das
  177. Ergebnis eines halben Computerjahres, und sollte nicht verlorengehen. So
  178. borgte William sich kurzerhand einen CD-Brenner und transportierte die Daten
  179. auf einer CD zur Uni. Die neue Umgebung war nun noch etwas größer, und bot
  180. ein neues Feature, eine Idee des Administrators: Die einzelnen Felder in der
  181. 3D-Matrix hatten nun unterschiedlich gute "Bedingungen" für ein Programm, so
  182. daß es sich manchmal selbst modifizieren mußte, um dort nicht gelöscht zu
  183. werden. Das, und die Tatsache, daß jetzt die vereinte Rechenpower von
  184. mehreren Workstations zur Verfügung stand, beschleunigte die Entwicklung
  185. ungemein. Ein kleiner Test zeigte, daß die in den Zellen enthaltenen
  186. Programme immer noch mit den Core-Wars-Standarts kompatibel waren,
  187. allerdings war jedes einzelne viel zu lang, um zu einem Wettbewerb
  188. zugelassen zu werden. Damit stand für William fest, daß er ohne Bedenken die
  189. Syntax ändern konnte, und neue Befehle hinzufügen. So tat er etwas, was er
  190. schon lange vorhatte: er bot den Zellen eine Möglichkeit, quasi zu
  191. kommunizieren, will heißen: jede Zelle konnte ein bestimmtes Signal stetig
  192. in alle Richtungen senden. Diese konnten allerdings nur von den benachbarten
  193. Zellen empfangen werden. Auf dem Kontrollmonitor wurde das als ein
  194. Leuchten in den Farben rot, grün, blau, weiß oder schwarz (für "kein
  195. Signal") angezeigt. Passenderweise funkelte der Bildschirm nun um die
  196. Weihnachtszeit wie ein Weihnachtsbaum, denn die Programme hatten die neuen
  197. Befehle schnell aufgenommen, ohne jedoch davon irgendwie sinnvoll Gebrauch
  198. zu machen. Aber solche Experimente brauchen Zeit.
  199. Um Neujahr herum war die Datenbank mittlerweile auf 6 Gigabyte angewachsen
  200. und belegte somit etwa die Hälfte der dafür extra vorgesehenen Festplatte.
  201. Selbstverständlich wurde mittlerweile nicht mehr die gesamte Datenbank im
  202. Speicher gehalten, sondern dynamisch geladen. Die gesamte Matrix war
  203. jetzt 100x100x100 Felder groß, rund ein Viertel davon war mit Programmen
  204. belegt. Rein rechnerisch ergibt sich daraus eine Größe von 24k pro Programm,
  205. es gab jedoch auch einzelne, wesentlich längere, die meistens in Gruppen
  206. auftraten. Es war mittlerweile unmöglich geworden, die Umgebung noch zu
  207. vergrößern, sonst wäre der Uni-Computer aus allen Nähten geplatzt. Schon
  208. jetzt beschwerten sich Studenten über langsamen Zugriff auf die Terminals,
  209. denn alle Workstations und Prozessoren opferten einen Teil ihrer Rechenpower
  210. für das Großprojekt von William.
  211. In der nächsten Zeit tat sich nicht sehr viel, William verbrachte einen
  212. Großteil seiner freien Zeit damit, die Gesetze hinter den Zellen zu
  213. begreifen, und irgendeinen Sinn in den Blinkmustern zu erkennen, die sie von
  214. sich gaben. Inzwischen hatte William die Umgebung so geändert, daß jedes
  215. Programm, also jede Zelle genau 255 verschiedene Signale senden konnte, aber
  216. immer noch schienen die Muster wild und ungeordnet zu sein.
  217. In diesem Jahr meldete sich William mit seinem Projekt bei "Jugend Forscht"
  218. an, und er gewann sogar den zweiten Platz in der Kategorie
  219. Technik. Damit lag er nur knapp hinter dem Sieger der Kategorie,
  220. der eine Maus-Emulation entwickelt hatte, die sich allein durch
  221. Gedankenkraft steuern ließ, und die auch wirklich funktionierte.
  222. Im März, etwa ein Jahr nachdem er die ersten Versuche mit Core Wars gemacht
  223. hatte, entdeckte William etwas erstaunliches: Die Programm-Zellen, die
  224. längeren Code enthielten und sich so gern zusammen aufhielten, hatten eine
  225. Möglichkeit gefunden, sich fortzubewegen. Dies geschah einfach dadurch, daß
  226. sie sich selbst in die benachbarte Speicherzelle kopierten, sofern diese
  227. frei war, und anschließend absichtlich den Kampf gegen diese Zelle verloren.
  228. Naja, Absicht kann man so einem kleinen Programm vielleicht nicht unterstellen,
  229. aber immerhin konnte dieses Phänomen mehrfach beobachtet werden.
  230. Inzwischen hatte William viele Mitarbeiter an diesem Projekt, und eine
  231. andere Universität bot an, eine Standleitung aufzubauen und gemeinsam die
  232. Rechenpower zu nutzen. Dieses Angebot war sehr willkommen, da die
  233. Uni-Rechner schon seit einem halben Jahr ständig belastet waren, und das
  234. Uninetz eher zähflüssig lief.
  235. Dann, kurz vor Ende des Semesters, hatte William eine Idee, die ihn mit
  236. einem Schlag buchstäblich weltberühmt machte: Er speiste ein jede Sekunde
  237. aktualisiertes Bild von der virtuellen Zellkultur ins Internet auf die
  238. Homepage der Universität. Eine Zeitlang wurde diese Seite zum Kult. William
  239. und seine mittlerweile eingespielte Crew aus Studenten und Computerexperten
  240. (Es gab wirklich Experten, die sich dafür interessierten!) erhielten
  241. massenweise eMails, in denen so unsinnige Fragen gestellt wurden wie "Können
  242. diese Viecher ausbrechen und das gesamte Internet lahmlegen?", oder solche
  243. offensichtlich schwachsinnigen Behauptungen wie "Ich habe rausgefunden, daß
  244. die Blinksignale Morsezeichen sind!" aufgestellt wurden.
  245. Der Wissenschaftliche Aspekt des Experiments kam in der nächsten Zeit sehr
  246. kurz, William verbrachte fast die gesamten Semesterferien mit dem
  247. Beantworten von eMails von seinen Fans, von denen er zumeist mit seinem
  248. neuen Spitznamen Franki (was natürlich von Frankenstein kommt) angeredet
  249. wurde. Irgendwann reichte es ihm, und er machte seine Mailbox dicht,
  250. zumindest für alle, die nicht an dem Projekt beteiligt waren. Die erhielten
  251. als Antwort statt dessen eine automatische eMail, in der auf die Homepage
  252. verwiesen wurde, wo das Neueste zum Projekt immer zu finden war.
  253. Die "Viecher" hingegen scherten sich überhaupt nicht um den Rummel, der um
  254. sie gemacht wurde, sie existierten einfach weiter und sandten wirre Signale.
  255. Mehrere unabhängige Studien aus Universitäten in der ganzen Welt bestätigten
  256. nur das eine, nämlich daß die Blinksignale wirklich und wahrhaftig rein
  257. zufällig auftraten. Und selbst das war eine Leistung, die William auch in
  258. intellektuellen Kreisen populär machte, denn bekanntlich ist es sehr schwer,
  259. einen programmierten Computer dazu zu bewegen, wirklich zufällige Zahlen zu
  260. erzeugen. Es mag bizarr anmuten, aber für eine Zeitlang diente Williams
  261. Universität quasi als weltweite Resource für zufällige Zahlen, immer wenn
  262. ein Wissenschaftler irgendwo eine benötigte, suchte er die Homepage der Uni
  263. auf, wählte 2 bis 4 beliebige Zellen, und bildete aus den Werten, die diese
  264. sendeten, eine Zahl nach Wunsch.
  265. Bis dann die totale Wende in der Entwicklung eintrat. Irgendwie war es
  266. passiert, am Anfang des neuen Semesters, daß plötzlich mehrere, dicht
  267. beieinanderliegende Zellen (die mit dem umfangreichsten Code) andere,
  268. einzelne Zellen quasi "umprogrammierten". Das war sehr eigenartig, denn
  269. eigentlich hatten die Zellen durch ihre Umgebung feste Fähigkeiten, und dazu
  270. gehörte nicht, irgendwelchen Code in benachbarte Zellen zu übermitteln. Dann
  271. fand jemand aus dem Team heraus, daß eine neue Art von Einzelzellen
  272. entstanden war: diese Zellen empfingen tatsächlich diese Blinksignale aus
  273. der Umgebung und hängten sie an ihren Code an. Diese Entwicklung war
  274. wahrscheinlich rein zufällig, ebenso wie die Fähigkeit der Zell-Haufen,
  275. ihren eigenen Code kontinuierlich als Blinksignal zu senden. Aber immerhin
  276. führte das schließlich dazu, daß die meisten freien Zellen nach ein bis zwei
  277. Wochen sich alle mehr oder weniger in demselben Zellhaufen gebunden hatten.
  278. Wenn zufällig innerhalb dieses Haufens ein Kampf begann, was immer noch Teil
  279. der Umgebungsparameter und daher unvermeidlich war, ging dieser auf
  280. mysteriöse Weise stets als ein Unentschieden aus, allerdings wurden dabei
  281. öfters Programmteile durcheinandergewürfelt, und manche Zellen wurden
  282. gelöscht, weil irgendwo ein Fehler aufgetreten war. Andere hingegen zeigten
  283. neue und in diesem Umfang noch nicht dagewesene Mutationen.
  284. William versuchte, die Erkenntnisse aus der Biochemie auf die Zellen
  285. anzuwenden, schließlich lag dieser Vergleich nahe, und erkam zu dem Schluß,
  286. das in der Ursuppe seines LIFE-Automaten gerade der erste mehrzellige
  287. Organismus entstand. Ironischerweise verlor die Öffentlichkeit genau in
  288. dieser Zeit jegliches Interesse an diesem Projekt, schließlich ist jede
  289. Kultwelle einmal vorbei. Inzwischen gab es diese Piepsteile aus Japan, die
  290. man auf den Boden legen konnte, und die hinter jeder Wärmequelle herrollten,
  291. und das war nun wirklich etwas anderes als auf einen Schirm zu starren und
  292. ein paar Computerviren beim Blinken zuzuschauen. William war das allerdings
  293. gerade recht, denn nun hatte er wieder mehr Zeit, um sich um wirklich
  294. wichtige Sachen zu kümmern. Wie zum Beispiel, zu beobachten, wie der
  295. Zellhaufen in verschiedene Richtungen Ausläufer bildete, die allerdings
  296. immer dann wieder zurückgingen, wenn sie gegen eine "Wand" der simulierten
  297. Umgebung wuchsen. Also veränderte William die Parameter so, daß die Matrix
  298. unendlich wurde, wenn also eine Zelle den Raum an einer Seite verließ, kam
  299. sie an der anderen Seite wieder herein. Der Zellhaufen dankte es ihm
  300. dadurch, daß er die Ausläufer quer durch die gesamte Matrix, und am anderen
  301. Ende wieder in den Zellhaufen hinein wachsen lies. Festzustellen, welche Logik
  302. hinter den einzelnen Zell-Programmen stand, war mittlerweile gänzlich unmöglich
  303. geworden, selbst die besten Computerexperten meinten, der in den Zellen
  304. enthaltene Code sei völlig sinnlos und ohne jedes System. Aber immerhin
  305. bewirkte er etwas, und das sprach für sich.
  306. Nur um mal wieder auf den Umfang zu sprechen zu kommen: Mittlerweile war die
  307. 100GB-Grenze überschritten, ein Ende war nicht abzusehen, und ein ganzes
  308. Bataillon von Festplatten, insgesamt 10 Terabyte, wartete darauf, zum
  309. Einsatz zu kommen.
  310. Neuerdings war zu beobachten, daß die Zellen im Zellhaufen inzwischen sehr
  311. wohl synchrone und geordnete Signale sendeten. Das war eine Sensation, denn
  312. bisher hatte es ja nur dieses irre Blinken gegeben. Die Fortsätze konnten
  313. sogar ein Signal Zelle für Zelle weitergeben, was sehr stark an Nervenzellen
  314. erinnerte. Irgendjemand kam auf die Idee, man könnte doch ein Ende eines
  315. solchen Strangs künstlich reizen, um eine Reaktion zu provozieren. Viele
  316. Mitglieder des Teams waren dagegen, schließlich könnte der
  317. Pseudo-Organismus, der bisher nie Signale von außen erhalten hatte, in
  318. seiner Programmierung so durcheinanderkommen, daß seine Zerstörung zu
  319. befürchten war. Die Befürworter behaupteten dagegen, daß die Signale, die
  320. von einigen stark mutierten Zellen stammten, auch nicht in das allgemeine
  321. Schema passten. Schließlich kam man überein, ein Backup der Matrix
  322. anzufertigen, und das Experiment dann durchzuführen.
  323. Man bestimmte also einen Punkt, wo sich gerade ein Strang von Zellen
  324. bildete, und erzeugte dort eine Pseudo-Zelle, die nicht gelöscht werden
  325. konnte, und auch keinen CW-Kampf mitmachte, sondern kontinuierlich eine
  326. vorgegebene Sequenz an Signalen sendete. Irgendein Geek hatte vorgeschlagen,
  327. man sollte ein paar Textdateien in Bytes zerpflücken und dem "Monster"
  328. (Diesen Spitznamen hatte der Zellhaufen irgendeinem Fan aus dem Netz zu
  329. verdanken, und irgendwie waren alle dazu übergegangen, ihn so zu nennen)
  330. sozusagen vorlesen. Nur um zu testen, ob das Monster vielleicht irgendwelche
  331. sinnvollen Worte erkennen oder gar bilden konnte. Schließlich war Monster
  332. inzwischen einige Gigabyte groß, und niemand wußte ganz genau, was diese
  333. Gigabyte eigenlich beinhalteten, und schließlich wußte auch niemand, ob
  334. nicht vielleicht die Fähigkeit, logische Schlüsse zu ziehen, irgendwo darin
  335. schlummerte. Ganz klar, es war reine Utopie, aber einige aus dem Team hatten
  336. zuviel William Gibson und Isaac Asimov gelesen und wollten irgendetwas
  337. erzwingen. Die Logiker im Team konnten ihnen das nicht ausreden, aber sie
  338. erreichten zumindest, daß die Text-Einspeisung systematisch erfolgen sollte.
  339. Es bestand wenigstens Hoffnung, daß der Text zwar nicht verstanden, aber
  340. doch zumindest zur späteren Verarbeitung irgendwo gespeichert würde.
  341. Freilich gab es keine Möglichkeit, das nachzuprüfen, aber ein Experiment war
  342. es wert. Also begann man damit, und zunächst passierte gar nichts. Dann
  343. entwickelte sich, nach ca. 3 Wochen spannungsvollen Wartens, ein neuer
  344. Strang, und an dessen Ende eine kleinere Anhäufung von Zellen. Bemerkenswert
  345. war, daß diese Zellen immer genau dasselbe Signal sendeten, daß in den
  346. anderen Strang eingespeist wurde. Die Kritiker fanden das witzig und sagten,
  347. Willi habe einen Organismus von der Intelligenz eines Glasfaserkabels
  348. entwickelt. Irgendwie war auch etwas Wahres dran, und einige waren
  349. enttäuscht und verließen das Team. Die meisten davon gehörten zu der
  350. Utopisten-Fraktion der Gruppe. Die Logiker wurden eine Woche später für ihre
  351. Geduld belohnt: Statt exakt derselben Signale kamen nun völlig andere
  352. heraus. Die Freude war allerdings nur von kurzer Dauer, denn die Signale
  353. entpuppten sich als ungefähr derselbe Wirrwarr, der schon fast ein Jahr
  354. zuvor gesendet worden war. Und genau an dieser Stelle hörte offensichtlich
  355. jegliche Entwicklung von Monster auf. Signale wurden weiterhin
  356. transportiert, und die Größe des Swapfiles nahm immer weiter zu (inzwischen
  357. war es fast ein Terabyte), aber als nach anderthalb Jahren nach der
  358. Installation des Textinputs immer noch kein Ergebnis zu sehen war, verließen
  359. nahezu alle anderen Studenten und Experten das Team. Auch William kümmerte
  360. sich immer weniger um das Projekt, auch er hatte wichtigeres zu tun.
  361. Schließlich sollte er nebenbei auch noch studieren. Die Workstations
  362. hingegen waren so programmiert, daß sie jedes Fetzelchen Text, was sie finden
  363. konnten, in die 1-Bit-Schnittstelle von Monster schaufelten, und alles ohne
  364. sichtbares Resultat. Als fast jede Textdatei des Uni-Netzwerks eingelesen
  365. worden war, ging das Programm, wie vorgesehen, dazu über, wahllos Websites
  366. in deutscher Sprache herunterzuladen, alle Tags darin zu eliminieren und den
  367. verbleibenden Text ebenfalls an Monster zu verfüttern. Und wieder war das
  368. Ergebnis bestenfalls ein reiner Datensalat.
  369. Irgendwann, es war knapp 3 Jahre nach Beginn des Experiments, bekam William
  370. von der Leitung der Universität die Mitteilung, da das Projekt
  371. offensichtlich keine weiteren Ergebnisse liefere, solle er es einstellen,
  372. zugunsten anderer Nutzer des Uni-Netzes. Natürlich tat es William in der
  373. Seele weh, und so nahm er sich die Zeit und das Geld, das Swapfile zu
  374. retten. Klar war eine 10-Terabyte-Festplatte nicht gerade billig, aber er
  375. organisierte sich eine und kopierte die gesamten Daten. Er wußte selbst
  376. nicht wofür, aber er wollte all diese Arbeit nicht einfach durch einen
  377. Mausklick verlieren. Einige Stunden und 10 Terabyte später konnte es William
  378. nicht länger hinauszögern. Er mußte es jetzt tun, und Monster seiner
  379. Existenzberechtigung berauben. Er stoppte also zuerst den Task, durch den
  380. Monster kontinuierlich mit Texten versorgt wurde. Dann trennte er die
  381. Netzwerkverbindung zu der Partneruniversität ab, die einen Teil ihrer
  382. Rechenpower gestiftet hatte. Monster war immer noch aktiv, nur mit
  383. niedrigerer Geschwindigkeit. Ein kleiner Mausklick vollbrachte es
  384. schließlich, mit einem Schlag wurden mehrere Gigabyte RAM freigegeben, alle
  385. Terminals in der Uni hatten plötzlich die doppelte Rechenkapazität zur
  386. Verfügung, und auf der Welt gab es einen mehrzelligen Organismus weniger.
  387. William kopierte noch das Umgebungssystem, das 3 Jahre lang als Raum für das
  388. Experiment gedient hatte, auf seine Festplatte, und löschte es aus dem
  389. Uni-Rechner. Dann löschte er den Ordner mit der Monster-Website und
  390. entfernte die Links aus der Homepage. Nun gab es nur noch eins zu tun,
  391. die monster.log-Datei zu löschen, worin stets die Ausgabe von Monster
  392. zwischengespeichert wurde, danach wäre jede Spur davon aus dem Computer
  393. beseitigt. Aus einem unbestimmten Impuls heraus öffnete er die Datei, und
  394. sah auf ersten Blick nur den üblichen Zeichensalat. Es war ganz einwandfrei
  395. ASCII-Code, es kamen sogar einige sinnvolle Wörter heraus, aber nichts ergab
  396. in der Verbindung einen Sinn. Bis schließlich sein Blick auf die letzten
  397. Zeilen fiel, und was er dort sah, ließ ihm fast das Blut in den Adern
  398. gefrieren. Das war der Beweis, daß Monster doch Intelligenz besessen
  399. hatte, und sogar seiner selbst bewußt gewesen war. Genau genommen hatte er
  400. einen Mord begangen. Er konnte lediglich sein Backup installieren und
  401. hoffen, daß alles wieder wie zuvor funktionierte. Er hätte es auch getan,
  402. wenn er in der Lage gewesen wäre, sich zu bewegen. Statt dessen starrte er
  403. unentwegt auf den Bildschirm und murmelte wirr vor sich hin, so geschockt
  404. war er. Auf dem Bildschirm war folgendes zu lesen:
  405. ERDZU WALNRIFC TRANS KFOEF INTERNE OJOFEFOE RESWF ICH WILL NICHT STERBEN ICH
  406. WILL NICHT STERBEN ICH WILL NIC<unexpected end of file>
  407.  
  408. Bleibt nur noch, das Ende der Geschichte zu erzählen. William erholte sich
  409. relativ schnell wieder, und zuallererst installierte er ChaOS1.0 wieder und
  410. auch die Datenbank mit den Zelldaten. Auf einmal war die gesamte Universität
  411. wieder daran interessiert, was hier geschah, auch wenn mindestens die Hälfte
  412. argwöhnte, er hätte das bewußte ASCII-File selbst getippt, um sein Projekt
  413. zu retten. Es war jedoch alles vergeblich. Alles war ordnungsgemäß
  414. installiert, theoretisch war das System in genau demselben Zustand wie vor
  415. dem Abschalten, aber die Informationen wurden nicht weitergeleitet. Keine
  416. einzige Zelle blinkte oder schickte Signale, nicht einmal, wenn sie
  417. künstlich gereizt wurden. Und so endete das Projekt.
  418. Seitdem war William in der Forschung zur künstlichen Intelligenz tätig. Ein
  419. Psychologe würde sagen, er hat versucht, den selbst hervorgeführten Verlust zu
  420. kompensieren. Inzwischen gibt es Computer mit Biochips, und eine
  421. Sprachsteuerung für Computerprogramme, die auch wirklich versteht, was man
  422. will, aber nie wieder in seinem Leben hat William es geschafft, einem Stück
  423. lebloser Technologie Leben einzuhauchen. Im Alter von 37 Jahren nahm er sich
  424. das Leben, indem er sich mit einem Starkstromnetzteil einer Großrechenanlage
  425. verkabelte. Ein Ausdruck der berühmten letzten Zeilen der Datei monster.log
  426. kann heute im Museum für Computergeschichte in Berlin besichtigt werden.
  427.  
  428.                      THE VERY END YEAH RIGHT IT IS HERE
  429.